Ljudmila Ulitzkaja über den Krieg in der Ukraine
Heute, am 24. Februar 2022, hat ein Krieg begonnen. Ich dachte immer, meine Generation, die während des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, hätte Glück gehabt, wir würden ohne Krieg weiterleben. Bis zu unserem Tod, der, worum wir stets als orthodoxe Christen beten, "friedlich, schmerzlos und nicht peinlich" sein möge. Aber daraus scheint nichts zu werden. Noch ist nicht abzusehen, wie sich die Ereignisse dieses dramatischen Tages auswirken werden.
Der
Wahnsinn eines Mannes und seiner ihm ergebenen Handlanger bestimmt das
Schicksal des Landes. Wir können nur vermuten, was darüber in fünfzig
Jahren in den Geschichtsbüchern stehen wird. Schmerz, Angst und Scham - das sind die Gefühle am heutigen Tag.
Schmerz - weil der Krieg alles Lebendige trifft - das Gras, die Bäume, die Tiere, die Menschen und ihre Kinder.
Angst - weil unser biologischer Instinkt auf die Erhaltung unseres Lebens und des Lebens unserer Nachkommen gerichtet ist.
Scham
- weil offensichtlich ist, dass die Regierung unseres Landes die
Verantwortung trägt für diese Situation, die großes Unglück über die
gesamte Menschheit bringen könnte.
Die
Verantwortung für das, was heute geschieht, tragen aber auch wir alle,
die Zeugen dieser dramatischen Ereignisse, weil wir sie nicht
vorherzusehen und zu verhindern vermochten. Wir müssen diesen
eskalierenden Krieg stoppen und uns den propagandistischen Lügen
entgegenstellen, die durch die offiziellen Medien auf unsere Bevölkerung
einströmen.
Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands.
(Quelle: Hanser-Verlag, München)